Vaters Bücher

Vaters Bücher waren überall. Im Wohnzimmer sowieso, im Flur, im Arbeitszimmer, im Esszimmer und im Schlafzimmer, in jedem Raum waren die Wände nach einem mehr oder weniger ausgeklügelten System, das nur mein Vater genau zu kennen schien, mit Büchern tapeziert. Ja, auf ihn schien ein Stück weisse Wand wie eine Bildungslücke zu wirken, die es mittels Neuanschaffung einer behäbigen mindestens zwanzigbändigen Werksausgabe eines Grossen der deutschen Literatur, zu beheben galt. Ab und an, zum Beispiel bei vielen Neuzugängen, gab es massive Umbauten. Da mussten Regale enger zusammengerückt werden oder gar ein Neues eingebaut werden. Auch das Verbinden bereits bestehender Regale mittels improvisierter Tablare, war, sehr zur Unfreude meiner auf Ästhetik bedachten Mutter, eine beliebte Ausbauvariante. Es reihten und stapelten sich unter anderen Heine, Hesse, Brecht, Tucholsky, Kästner, Fontane, Mann, Grass, Storm, Rilke, Morgenstern, Zuckmayer, Zweig. Anschliessend die Schweizer Fraktion mit Dürrenmatt, Gotthelf, Frisch, Muschg und so weiter. Daneben Biografien berühmter Leute, und was mich am meisten begeisterte, Geschichts- und Kunstbücher. Da hatte es die meisten Bilder drin. Beeindruckend, Ehrfurcht erheischend der in Leder gebundene Brockhaus, achtzehn Bände oder so. Ein jeder Band ein Stück hoher Buchbinderkunst, ein Rätsel für mich als kleinen Knirps, warum man so schöne Bücher dichtgedrängt aneinander reiht, als wären sie hässlich und müssten versteckt werden, dabei war doch ein jedes ein kleines Kunstwerk.

Wie schön hatten es da die mächtigen Bibeln, die mitten in den Kirchen trohnten, auf speziell für sie errichteten Stehpulten. Die ganze Kirchgemeinde ging in die Knie, wenn sie unter allgemeinem Gemurmel und Weihrauchfahnen geöffnet wurden, selbst die Domherren, ja sogar der Bischof senkten ihre silbriggrauen Häupter ganz tief runter, fast bis zum Boden, so einen Heidenrespekt hatten die. Oder schämten sie sich gar? Später wusste dann auch ich, dass sie sich nicht schämten, die roten Köpfe des hohen Messweinkonsums wegen zustande kamen. Auf jeden Fall hatten sie mehr Respekt vor ihrer Bibel als wir vor den Unsern in der Schule. Wir mussten mit einem dunkelblauen, in Plastik gebundenen von allem Anfang an schmierigen, hässlichen Ding vorlieb nehmen, das förmlich nach Modifikationen schrie! Zum Leidwesen unserer Religionslehrerin (Schwester Bergmana selig), die bei einer besonders gut gelungenen Neuillustration heulend aus dem Schulzimmer rannte. Na ja, Plastik war damals halt der letzte Schrei, die Kirche mochte da nicht abseits stehen: Alte Botschaft neu verpackt! Die Mädchen kriegten dieselbe in dunkelrot, mit Maria statt Jesus auf der ersten Seite, das heisst, oberhalb der knienden, gebeugten Hauptes betenden Mutter Gottes schwebte noch so ein Mann, so dass die Gleichberechtigung auch gleich geklärt war. Ordnung muss sein! Im Himmel sind wir dann vielleicht alle gleich, nicht so auf Erden.

Ein schönes Buch braucht Platz! Die in den Buchhandlungen schienen das auch zu wissen, ganze Schaufenster waren für die farbigsten und originellsten Exemplare hergerichtet. Vater meinte, dass wir halt zu Hause nicht so viel Platz hätten, im Übrigen wären im Laden drin die Bücher auch etwas näher zusammengerückt, womit er zweifelsohne Recht hatte.

So gegen Ende meiner Schulzeit verlor sich mein Interesse an Büchern, die Dinger erschienen mir immer bedrohlicher. Wer sich nicht äusserst genau die Inhalte einprägte, kriegte bei der nächsten Prüfung mächtig Probleme. Die vielen viereckigen Köpfe meiner ehemaligen Schulkollegen legen noch heute Zeugnis davon ab.

Das bleibende Bild ist diese schräg aufgestellte, offene Bibel die da so erhaben trohnte. Ein Denkmal aus vergangener Zeit. Der Lack ist ab, die Kirchen sind leer, die Bibeln zerlesen, zerzaust, zerfranst und zerfetzt, das Papier durch den Bildschirm ersetzt. Der Bildschirm ist noch geduldiger als Papier! Auch der Bischof erscheint jetzt darauf...

Vater hatte keinen Bildschirm.